Systeme brauchen Störung, das geht nur mit gelebter Diversität. Ein Aufruf!

Ute Hamelmann
8 min readSep 8, 2021

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Wir begegnen uns in den Gemeinsamkeiten und wachsen an unseren Unterschieden. (Virginia Satir)

Für Innovationsmanager ist es ein schmerzvolles Paradox. Überall lesen wir, Unternehmen brauchen gerade jetzt Rebellen, konstruktive Neu- und Andersdenker, innovative Kreative, Künstler, Philosophen, Soziologen, open Innovation, Diversität, externe Impulse.

Wenn es allerdings dann soweit ist, also wenn es wirklich, wirklich divers, innovativ und anders in den Organisationen und Unternehmen werden soll, ja richtiggehend rebellisch, nämlich selbstorganisiert, hierarchiefrei und echt kundenorientiert (vielleicht sogar schon gemeinwohlökonomie-, degrowth- und postwachstumsorientiert), wenn also all’ diese anderen Menschen, mit ihren anderen, neuen Methoden, Denk- und Herangehensweisen, irgendwann den im bestehenden System Arbeitenden auf die Pelle rücken, womöglich in deren Wirkungskreis, deren Gewohnheiten eindringen, die Konformität in Frage stellen, dann scheut man diese anderen, diese diversen, diese kreativen, innovativen Menschen plötzlich wie der Teufel das Weihwasser. Man empfindet sie als störend, lästig, enervierend und cancelt sie ab. Unter anderem äußert sich das in Floskeln wie “Wir sind doch nicht google.” “Wir müssen ja auch immer noch Geld verdienen.” usw.

„Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich erst eine Bahnsteigkarte! “ (Wladimir Iljitsch Lenin)

All’ diese Floskeln und Begriffe zielen darauf, das alte System des Fordismus und der Bürokratie (Zygmut Bauman) als aktuellen Status-Quo zu bewahren. Das ist überhaupt nicht ungewöhnlich, denn Veränderung hat immer etwas mit Angst zu tun, Verlustaversion, vor allem des eigenen Status-Quo (Daniel Kahnemann). Und die “German Angst” scheint ausgeprägt zu sein, wenn es um Veränderung geht, das sehen wir unter anderem daran, wie zaghaft dem Klimawandel begegnet wird. Statt mutig interessante und integrierende Zukunfts-Visionen zu entwickeln, tritt man lieber auf die Bremse, flüchtet sich in die altbekannte deutsche Betulichkeit und in die Muster der Vergangenheit, manchmal schürt man auch einfach nur noch mehr Angst und Bedenken: Aufpassen an der Bahnsteigkante! Vorsicht! Obacht! Achtung! Und während im Hintergrund abgewiegelt wird: “Hätt ja immer noch jot jejange! Wird schon wieder! Na warten wir mal ab. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird!” wird vorn auf der Bühne von der digitalen Revolution und dem “Kampf um den Kunden” gesprochen, als gäbe es kein Morgen. Man möchte als Innovationsmanager in diesen Momenten geradezu wütend Peter Druckers Mantra herausbrüllen: “Culture eats strategy for breakfast!”

“Self-Organization: The Roots of an Alternative.”

(Francisco Varela, Evan Thompson, Eleanor Rosch)

Denn inzwischen ist hinlänglich bekannt: Systeme sind operational geschlossen. Sie ändern sich nicht einfach so! Komplexe Systeme sind nicht vorhersehbar, nicht berechenbar, schon gar nicht voraussagbar. Man ändert sie nicht auf Befehl, oder weil man sie anbrüllt, oder gegen sie ankämpft, oder große Reden schwingt — am besten jede Woche eine andere (Peter Kruse). Es gibt keine Input-Output-Beziehung zwischen Systemen und ihrer Umwelt (Fritz B. Simon), was nicht heißt, dass sie nicht in Wechselwirkung mit ihr stehen. Systeme brauchen aber genau deshalb die ständige Störung, den Impuls von außen, die Irritation, auch Pertubation genannt. Verändern müssen sie sich trotzdem eben selber, aus sich heraus. Ein System kann Veränderung nämlich auch schlicht ignorieren oder verdrängen nach dem Motto: “Wat nich mutt, dat mutt auch nich!” Das geht besonders gut in den bestehenden, hierarchischen Systemen, die ja von Frederick Winslow Taylor genau mit dem Ziel angelegt sind: Reduktion, Monotonie, Wiederholbarkeit und Trivialisierung der Tätigkeiten — und deshalb im digitalen Zeitalter komplett automatisierbar.

“Niemand kann einen anderen davon überzeugen, sich zu ändern. Jeder von uns hat eine Tür zur Veränderung, die nur von innen geöffnet werden kann.” (Virgina Satir)

Das Problem bei dieser sich abgrenzenden, auf sich selbst bezogenen Haltung ist: traditionelle Systeme können irgendwann dermaßen in ihren Routinen, Mustern und Gewohnheiten feststecken, dass sie gar nicht mehr wissen oder sich vorstellen können, welche Möglichkeiten es überhaupt noch gibt. Sie bilden dann einen ausgeprägten Fundus an Blind-Spots, unbewusster Inkompetenz und Unconsciousness Biases aus, so dass sie sich irgendwann schlicht nicht verändern können, weil sie einfach keine Ahnung haben (Dunning Kruger Effekt). Hinzu kommt, dass in traditionellen Unternehmen oft alles an dem einen Mindset des CEOs hängt, weil das gesamte Unternehmen in der pyramidenförmigen Funktionsdiagrammen strukturell und funktional nach oben, zur Spitze hin ausgerichtet ist und seine Aufmerksamkeit entsprechend darauf gelenkt wird (Fritz B. Simon). Echte gelebte Diversität ist im Grunde nur in emergenten Ordnungen selbstorganisierter Systeme möglich.

„Unser Leben ist nichts anderes als das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten“ (William James)

In einer komplexen Welt brauchen Systeme diese vielfältigen Störungen und die Integration der Irritationen aber nicht nur, um sich zu verändern, sondern schlicht: um zu überleben! Das ist das Wesen autopoietischer — das heißt sich selbst erschaffender und sich selbst erhaltender — Systeme (Humberto Manturana, Francisco J. Varela). Und die sind wir alle: Menschen, Organisationen, Firmen, Organismen. Deswegen ist es im Grunde auch völliger Mumpitz, externe Berater zu holen, damit die für Veränderung sorgen. Auch diese können immer nur stören, irritieren, neue Impulse reinbringen, nie aber grundlegend verändern, das muss das System selbst leisten — oder eben auch nicht. Die Störung oder Irritation hilft Systemen wie Organisationen, ihr Bild von der Umwelt neu zu konstruieren und sich entsprechend anzupassen — aber von Innen, aus sich selbst heraus. Und ja, in einer Welt, die immer komplexer und volatiler wird, sollte man einen ähnlich hohen Komplexitätsgrad auch in der Organisation abbilden (= Law of Requisite Complexity (Max Boisot, Bill McKelvey)).

Es im Übrigen kein Wunder, dass ein agiles und im Grunde zutiefst demokratisches Rahmenwerk wie Scrum die Iteration anhand der Adaption, also die kontinuierliche Weiterentwicklung anhand der Umwelt, inkludiert hat. Alle vier Wochen MUSS zumindest EINE Weiterentwicklung (Iteration) passieren und zwar, indem man die diversen Bedürfnisse der Umwelt (= Kunde) abbildet und in die Weiterentwicklung integriert (Adaption). Scrum ist in ein Regelwerk gegossene, autopoietische Systemtheorie wenn man so will, inkl. Anwendung einer möglichst einfachen Regel. Richtig angewendet, kann ein System also mit Scrum, nichts anderes, als seine Wahrscheinlichkeit zu überleben erhöhen, selbst ohne den maximalen Gewinn, Umsatz und Ertrag aus allem herauspressen zu wollen. Warum? Weil alles ökonomische genauso gut systemisch gedacht werden kann, die Evolutionsökonomik spiegelt diesen Ansatz wider.

“Selbstorganisation ist das dynamische Prinzip, das der Entstehung der reichen Formenwelt biologischer, ökologischer, gesellschaftlicher und kultureller Strutkuren zugrunde liegt.” (Erich Jantsch 1979)

Systeme verändern sich von innen. Und wer könnte Systeme nicht besser von innen heraus irritieren, stören, piksen, nerven, ja durch ihre persönliche Vielfalt komplexer machen, als eben jene oben genannte andere: Kreative, Künstler, agile Coaches, ehrlich ihre Meinung sagende und sich leidenschaftlich interessierende und diskutierende, neugierige Menschen und Mitarbeiter*innen, die sich in die Prozesse “einhacken”, Prozesse begleiten oder moderieren. Eben ein Maximum an diversen Gedanken, Methoden und Pertubationen ins System bringen. Ja, die nerven, aber sie helfen dem System schlicht dabei, sich zu verändern, um zu überleben, indem sie ihre vielfältigen Wahrnehmungen in das System einspeisen. Deshalb ist Teamarbeit auf Augenhöhe so wichtig, deshalb ist es wichtig, dass alle gleichermaßen gesehen und gehört werden und sich einbringen können!

“Only variety absorbs variety.” (Ross Ashby)

Denn was passiert, wenn vom System keine Umweltveränderungen beobachtet werden? Wenn sich ein System völlig ignorant zu Störungen, zur Diversität und Komplexität der Umwelt verhält? Dann können Systeme in ihrer Selbstumkreiselung eine Art Autismus verfallen (Fritz B. Simon). Die Folge sind Kommunikationsstörungen, Instabilität und Dysfunktionalitäten, die sich in der Kommunikation der Mitarbeiter*innen untereinander, in der Stakeholderkommunikation, Produktkommunikation und in der Customer-Relationship niederschlagen. Wer mag, lese das in Conways Gesetz gerne nach. Und schließlich, wenn keine Kommunikation mehr besteht, droht das Ende eines Systems: “Soziale Systeme bestehen (…) aus Kommunikationen.“ (Niklas Luhmann) Aber nicht irgendeine Kommunikation. Die Kommunikationen müssen anschlussfähig und auf einen Sinn hin ausgerichtet sein. Deshalb ist es auch so wichtig Geschichten zu erzählen, einen Purpose als Ausrichtung und Nordstern zu haben, und in gemeinsame, interdisziplinäre und kontinuierliche Erkenntnisprozesse einzutreten. Es geht darum gegenseitige Wechselwirkungen, Austauschmöglichkeiten- und dynamische Selbstlernkreise zu bilden und offen Wissen, Neuigkeiten und Perspektiven auszutauschen (Peter Senge).

Umgekehrt heißt das: bei zunehmender Reduktion und Veränderungsunwilligkeit, ist es auch durchaus möglich, dass Organisationssysteme irgendwann “blöder” sind als ihre einzelnen Mitarbeiter (Fritz B. Simon). Spätestens dann werden die alten, auf Reduktion getrimmten Command-and-Control-Systeme zum Problem, wenn es nämlich darum geht, intelligente Mitarbeiter zu finden und zu binden, eben solche, die ja eigentlich neue Impulse und Ideen einbringen sollten.

Complexity is looking at interacting elements and asking how they form patterns and how the patterns unfold. It’s important to point out that the patterns may never be finished. They’re open-ended.” (Brian W. Arthur)

Doch zurück zum Thema Diversität. Kein System kann die gesamte Diversität und Komplexiät der Umwelt abbilden. Wir Menschen würden an Überreizung schlicht sterben, wollten wir alle Reize, die täglich auf uns einprasseln, in ihrer Gesamtheit verarbeiten. Aus unseren Wahrnehmungen formen wir Muster, selektieren und priorisieren permanent, das macht unser Gehirn automatisch — wenn es gut läuft (Maurice Merleau Ponty, Edmund Husserl). Wenn nicht, geraten wir aus dem psychischen Gleichgewicht. Irritationen haben etwas gutes, sie können beispielsweise im Akkomodationsprozess von Jean Piaget spannende Impulse für uns sein, um uns weiterzuentwickeln, uns komplexer und damit resilienter zu machen, quasi auf die nächste persönliche Entwicklungsstufe zu hieven, die uns dann idealer Weise wieder in den angestrebten Gleichgewichtszustand versetzt (Äquilibration). Wenn sich diese Störungen wieder regulieren lassen, gut. Wenn nicht, wird es für uns Menschen pathologisch und instabil — das gleiche gilt für Organisationen.

“Every psychological explanation comes sooner or later to lean either on biology or on logic (or on sociology, but this in turn leads to the same alternatives).” Jean Piaget

Systeme dienen immer der Reduktion von Komplexität, bei zeitgleicher Erweiterung der Komplexität — beim Menschen kann dies das Bewusstsein sein. All das setzt einen permanenten, aktiven Feedback-Prozess voraus. Systeme nehmen sich aber letztlich aus ihrer Umwelt immer nur das, was sie brauchen, um ihren Sinn zu erreichen, nicht mehr.

Aber um Alternativen zu haben, um in dem Moment des “Brauchens” bzw. Bedürfnisses, die für das jeweilige System passende Möglichkeit auswählen zu können, empfiehlt es sich, möglichst viele und möglichst diverse Alternativen im Köcher zu haben. Das macht uns rasch reaktionsfähig. Wir sind dann in der Lage schnell Störungen auszutarieren, mit ihnen umzugehen, zeitnah wieder in Balance zu kommen.

“Mit jedem Sinn, mit beliebigem Sinn wird unfassbar hohe Komplexität (Weltkomplexität) appräsentiert und für die Operation psychischer bzw. sozialer Systeme verfügbar gehalten. Sinn bewirkt dabei einerseits, dass diese Operationen Komplexität nicht vernichten können, sondern sie mit der Verwendung von Sinn fortlaufend regenerieren.” (Niklas Luhmann, 1984)

Warum sollten Systeme Komplexität dennoch stetig erhöhen? Und warum ist das insbesondere in der digitalen (VUCA-) Welt wichtig? Hier kommt Ross Ashbys “Law of Variety” zum Tragen: Um ein stabiles System auszuprägen — und das haben alle autopoietische Systeme zum Ziel, das Gleichgewicht, die Homöostase — ist es erforderlich, dass ein System möglichst viele Störungen ausgleichen kann. Das geht nur, je größer die Handlungsvarietät des Systems ist. Sprich: Ein agiles, komplex-dynamisches, selbstorganisiertes System, das aus vielen kleinen, selbstorganisierten Teams besteht und schon im Vorfeld möglichst viele Möglichkeiten der Umwelt erspürt und repräsentiert, ist als Ganzes natürlich ungleich flexibler, offener und handlungsfähiger, als ein hierarchisches System, in dem es einige wenige Bestimmer, mit einigen wenigen mentalen Modellen und lange Wasserfallprojekte gibt. Je größer die Varietät eines Systems ist, desto mehr kann es die Varietät seiner Umwelt durch Steuerung vermindern! Ein solches komplexes und dynamisches System ist also ungleich resilienter und reaktionsfähiger.

Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!”
Heinz von Foerster

Wie geht das aber nun ganz konkret? Wie kriegen wir mehr Komplexität, mehr Diversität in unsere Systeme? In uns selbst? Aber auch in Organisationen und Unternehmen?

  1. Indem wir zum einen unsere persönliche Anzahl der Wahrnehmungen erhöhen, z.B. Bewusstsein unserer Blind-Spots, genau zuhören, nicht von sich aus auf andere schließen
  2. Indem wir diese Vielfalt an Wahrnehmungen in Form von demokratischen, völlig hierarchiefreien Team in die Organisation integrieren
  3. Indem wir und Störungen, Disruptionen und Pertubationen immer als positiven, interessanten Impuls sehen
  4. Indem wir Störungen rasch und aktiv einbeziehen in die Kommunikationsprozesse und offen für Neues und Ungewöhnliches sind
  5. Indem wir die Anzahl unserer Handlungsmöglichkeiten kontinuierlich und mit Verve erhöhen.
  6. Indem wir neue Dinge ausprobieren, experimentieren und uns immer wieder auf neue Erkenntnisse einlassen und in eine andere Richtung gehen können.
  7. Indem wir neue, komplex dynamische, selbstorganisierte Systeme schaffen, die Diversität fordern, fördern und als positives Asset nutzen.

Wer noch mehr dazu lesen möchte, dem empfehle ich Donella Meadows “Leverage Points: Places to Intervene in a System

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